(Vor-)Urteile und das Bild der Utopie

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Mit meinen Kommentaren zur Utopie und meiner Vorstellung davon wollte ich ausdrücken, was ich in den letzten Tagen im Buch Gesundes Kommunizieren gelesen habe.

Im Unternehmen beschäftigen wir uns seit einigen Monaten damit, alle Mitarbeiter an der Gestaltung des Unternehmen zu beteiligen. Begonnen haben wir damit gemeinsam, nach 25 Jahren Unternehmenskultur ein Leitbild zu entwickeln. Darin sind die Werte enthalten, die wir als Mitarbeiter tragen wollen und nach denen wir unser Handeln ausrichten wollen. Es soll uns als Mitarbeiter und uns als Firma in Werte ausdrücken. Außerdem sollen Spielregeln entstehen, die die Grenzen unser Zusammenarbeiten zeigen sollen.

Und jetzt bekomme ich, mehr oder weniger nebenbei, dieses Buch in die Hand gedrückt. Darin steht, meiner Meinung nach, die logische Konsequenz dieser Entwicklung und ein weg zur Umsetzung einer Mitarbeiter orientierten Unternehmensführung. In der die Mitarbeiter keine Kostengruppen sind (Lohnkosten) und die Geräte das Vermögen darstellen (Anlagevermögen), sondern andersherum. In denen der Chef nicht an der Spitze des Unternehmens thront, sondern das Unternehmen schultert und das Fundament darstellt. (Aus meiner Sicht die zwei wichtigsten Aspekte dieser Änderungen: "Mitarbeiter sind der Wert des Unternehmens.", "Führung kommt von unten.")

Unser Ziel als Unternehmer war es, so habe ich es verstanden, das Potential unserer Mitarbeiter zu nutzen. Jetzt, nach der Lektüre, frage ich mich allerdings, wie so etwas mit unserem Verständnis von Führung und Miteinander überhaupt funktionieren kann und konnte?

Bin ich zuvor noch davon ausgegangen, dass Toleranz in einer utopischen Gesellschaft die Utopie möglich macht, glaube ich mittlerweile, dass es etwas anderes sein muss. Toleranz um "des lieben Friedens willen" wird weiterhin dazu führen, dass es Lager bestimmter Ideen und Vorstellungen gibt, dass Differenzen nicht ausgesprochen sondern geschluckt werden. Und all das belastet und macht die Gesellschaft krank, ich glaube sogar, es macht den Menschen physisch krank.

Woher kommt Leistungsdruck? Woher kommt die damit verbundene Angst vor dem Versagen? Woher kommt der Burn-out?

Es gibt bestimmt eine Menge Antworten dazu und medizinische Untersuchungen. Aber wenn ich bei mir selbst schaue, wann ich gestresst bin, oder wann ich Hilflos bis Ohnmächtig werde, dann sind es nicht die Dinge, die mir Spass machen, die ich gut kann. Sondern Dinge, denen ich noch nicht gewachsen bin. Meinen Schwächen.

Aber wie kommen wir überhaupt darauf, das wir Schwächen haben? Ich meine, wenn ich ein Gewicht hebe und die 30 Kilo noch schaffe, die 60 Kilo aber nicht mehr, bin ich dann (zu) schwach? Hier mal im buchstäblichen Sinne! Bezogen auf unsere Leistung, wieso ist die 4 in Französisch auf meinem Abi-Zeugnis eine Schwäche? Ich liebe Frankreich, ich liebe Sprachen und gibt man mir Zeit und Übung, dann beherrsche ich diese Sprache auch (zumindest kann ich mittlerweile mehr französisch als im Abi!).

Nehme ich die Schulzeit als Beispiel, dann kann ich recht gut aufzeigen, worauf ich hin will. Ich besitze nicht die Fähigkeit, große mengen Wissen auswendig zu lernen. Deshalb habe ich in allen Fächern, um die es um viel Wissen ging schlechte Noten: Erdkunde, Geschichte, Englisch, Französisch, Deutsch. Die letzteren drei, weil ich mir die vielen Regeln und Wörter nicht (gleich) merken konnte. Zum Glück konnte ich Deutsch abwählen und habe mich dann im Englisch LK zu einer 2,5 durchgeschlagen, wie gesagt: Französisch 5-4! Geschichte habe ich durch Bio ersetzt und Erdkunde brauchte ich nicht mehr, dafür hatte ich Kunst und Musik. Mathe dagegen, war leicht. Die Lerninhalte von Mathe hatten allesamt etwas mit verstehen zu tun und nicht mit Pauken. Und darin bin ich eigentlich ganz gut.

Mein Frust auf Französisch war ziemlich groß, obwohl ich Frankreich liebte (und noch liebe!). Dennoch habe ich in jeder Klausur eine 5 bekommen. Und die "einzige" Begründung war: "Das war nichtmal ausreichend!" (es gab sicherlich noch mehr, die standen ja alle in Rot daneben!). Meine Bestätigung bekam ich ja in Mathe, Englisch, Bio und Sport... ... Soll es das wirklich sein? Sollen uns Noten, Bewertungen ausmachen? Heißt es nicht oft genug: "(Nicht für mich, sondern) für das Leben lernst Du!". Habe ich zumindest oft meinen Kindern gesagt. ... Aber wofür lernen unsere Kinder in der Schule denn? ... für die Klausur. Höre ich zumindest mehr als einmal im Schuljahr :)

Und das ist meine Antwort auf die Fragen weiter oben: "Woher kommt Leistungsdruck?", weil wir es gewohnt sind zu Bewerten, uns selbst, andere, jede Situation. Vorurteile hatte ich zuvor als wichtiges Instrument unseres Organismus definiert. Sie sind wichtig um nicht jede Information verarbeiten zu müssen. Das sehe ich immer noch so. Aber, in unserem Leben sollten diese Urteile, diese Bewertungen nicht unser Handeln beeinflussen. Und schon gar nicht unsere Kommunikation.

Das sehe ich für ein erfolgreiches Utopia als Pfeiler, Ehrlichkeit anstatt Bewertungen. "Gewaltfreie Kommunikation" beschreibt dabei einen Weg, wie man Ehrlichkeit nicht zum Angriff werden lässt. Ehrlichkeit kann schonungslos sein, und muss nicht verletzen. Wenn man den wahren Grund erkennt und nicht das Offensichtliche.

Ein Beispiel: Neid, wird als Missgunst oder Ungerechtigkeit empfunden. Oberflächlich ist es sicherlich so, es kommt uns ja so vor, als würde der Neider dem Beneideten etwas nicht gönnen. Ich es denn ausgeschlossen, dass der Neid nicht nur die Reaktion auf ein Bedürfnis des Neiders entstanden ist? Vielleicht fühlt sich die Person Wertgeschätzt in seiner Arbeit und gönnt deshalb nicht den neuen Firmenwagen für den Kollegen? Es gibt sicherlich noch andere Gründe, warum man neidisch sein kann.

Es geht mir darum, dass hinter der Oberfläche evtl. mehr sitzt, als den Stempel, den wir Ihr verpassen. Ein Bedürfnis, dessen man sich im Zweifel selbst nicht bewußt ist, dass aber als Resultat etwas zeigt, was es wert ist bewertet zu werden.

Wenn wir wüssten, warum jemand neidet, würde uns das evtl. ein Verständnis davon bringen weshalb etwas gesagt wurde? Wir müssten das Gesagte oder das Bedürfnis nichtmal selbst empfinden oder vollständig nachvollziehen können. Es würde uns aber evtl. helfen die Äußerung nicht persönlich zu nehmen, selbst wenn sie weit von einem höflichen Umgangston entfernt war.

Evtl. wäre es sogar gut, wenn wir darüber mit anderen Sprechen würden, also den wahren Grund, warum jemand so reagiert wie er reagiert, weil es die Wahrheit ist und, wäre es für jeden Sichtbar, erklären würde warum die Person sich so verhält, wie sie sich verhält? Also eine Wahrheit, die kein Geheimnis sein muss, weil es für den anderen kompromittierend oder verletzten wäre, wenn andere es wüssten.

Dazu müsste aber jeder bereit sein, ich sich selbst zu hören. Selbst zu ergründen, welche Bedürfnisse gerade wichtig sind und wie sie das Handeln beeinflussen. Wenn es keine Scham gäbe, Bedürfnisse zu haben und jeder sich die Zeit nehmen würde die Bedürfnisse des Anderen zu hören.

Es geht nicht darum, jeden Menschen zu verstehen, oder jedes Bedürfnis. Es ist nur die Frage, was mit uns passieren würde, wenn wir es wissen?